Slum Tourismus ist umstritten.
Ich will aber möglichst viele Facetten eines Landes kennenlernen.
Vor einiger Zeit habe ich an einer Führung durch die Favela Vidigal in Rio teilgenommen. Durch die freundliche Begegnung mit den Menschen hatte es weder etwas Beklemmendes noch etwas Voyeuristisches.
Also beschließe ich in Mumbai an einer Dharavi Slum Tour teilzunehmen.
Inhaltsverzeichnis
Info & Fakten
Laut offiziellen Angaben gibt es mehr als 200 Slums in Mumbai. Dharavi ist einer davon. Nicht irgendeiner, sondern der größte und damit einer der größten Slums der Welt überhaupt. Beim Wort Slum muss ich aber gleich einhaken. Jeder hat — glaube ich — sofort ein bestimmtes Bild im Kopf. Zumindest meines wird in Dharavi über den Haufen geworfen.
Im Dharavi Slum leben heute über 1 Million Menschen. Hier ist alles dicht auf dicht. Es gibt Werkstätten und kleine Betriebe, Hütten und Häuser, über 100 Tempel, Moscheen und Kirchen. Es gibt Kindergärten, Schulen, Gemeinschaftszentren, Restaurants und ein Krankenhaus.
Die meisten Familien teilen sich einen Raum von durchschnittlich 12,5 Quadratmeter. Hier leben, schlafen, essen im Schnitt 6 Personen.
Zum Mittagessen bin ich bei der Mutter meines Guide. Ich sitze auf dem einzigen Stuhl. Der winzige Wohnraum hat vielleicht gerade mal 10 qm. Unglaublich, dass hier eine ganze Familie lebt und schläft.
Ich gehe durch enge, winkelige Gassen. Obwohl es seit Tagen nicht geregnet hat, ist es an manchen Stellen rutschig. Die schmale Rinne für das Abwasser ist nur lose abgedeckt und läuft über. Ich will gar nicht daran denken, wie es hier zu Regenzeiten aussieht.
Manche Gänge sind so schmal, das gerade mal eine Person durchpasst. Hier ist ein Kleinbetrieb neben dem anderen.
Töpfereien, Bäckereien, Schuhmacher, Lederverarbeitung, Kofferhersteller und Schneidereien. Manche sind den Blicken verborgen, andere sind nach außen offen. Wieviele es sind ist schwer zu sagen. Schätzungen gehen von Zahlen zwischen 10.000 und 15.000 Werkstätten aus.
Eines aber ist sicher: hier wird unter härtesten und gesundheitsschädlichen Bedingungen gearbeitet. Natürlich ohne Arbeitsschutz.
Wiederverwertbarer Schrott aus der ganzen Welt wird gesammelt, sortiert, geschreddert, geschmolzen und weiterverkauft. Überall in den engen Passagen stehen Berge von Pappkartons, Metallschrott, Kotflügel, Farbeimer mit giftigen Substanzen, Kisten und Säcke mit Undefinierbarem.
Aber es wird nicht nur alles Erdenkbare recycelt. In den Werkstätten entsteht auch Neues: Kleidung, Koffer, Lederwaren wie Taschen, Schuhe oder auch Lebensmittel.
Einiges davon landet auch im Westen.
So werden jährlich Waren im Wert von über 650 Millionen Dollar hergestellt.
Entstehung von Dharavi
Ursprünglich lag Dharavi am Rande von Mumbai und war ein Fischerdorf. Mumbai hieß zu dieser Zeit Bombay. Die Stadt bestand aus mehreren Inseln, die man im Laufe der Jahre trockenlegte. Das so gewonnene Land entzog den Fischern ihre Existenzgrundlage. Es war kostenlos und lockte wegen der Nähe zur Stadt Menschen aus dem ganzen Land an. Die ersten, waren die Töpferfamilien aus Gujarat mit ihren Keramikwerkstätten. Es folgten die Gerber aus Maharashtra und die Schneider aus Uttar Pradesh. In der Folge kamen die Arbeitssuchenden aus allen Landesteilen.
Die Töpferwerkstätten, Ledermanufakturen und Schneidereien gibt es noch heute.
Dharavi — Die Gegenwart
Dharavi ist nach Religionsgemeinschaften aufgeteilt: 60 Prozent der Bewohner sind Hindus, 33 Prozent Muslime und 6 Prozent Christen.
Im Vergleich zu anderen Slums von Mumbai geht es den hier Lebenden relativ gut. Die Mieten scheinen bezahlbar. Es gibt Strom, wenn dieser auch oft irgendwo abgezapft wird. Ein Problem sind die Wasserversorgung und die Toiletten. Sie fehlen in den privaten Haushalten. Während sich 1.400 Bewohner eine Gemeinschaftstoilette „teilen“ müssen, haben aber inzwischen viele Häuser eine Wasserleitung im Haus oder zumindest in der Nähe.
Slum for Sale
Früher lag der Dharavi Slum am Rand von Mumbai. Mit dem Wachsen der Stadt hat sich das geändert. Jetzt liegt er mittendrin. Das weckt Begehrlichkeiten.
Seit 2007 gibt es immer wieder Pläne, das wertvolle Gebiet zu verkaufen und die Hütten abzureißen. Der Käufer muss im Gegenzug Hochhäuser bauen und jeder Familie des Viertels kostenlos eine Wohnung mit 20 Quadratmeter zur Verfügung stellen. Außerdem muss er für die Wasser- und Abwasserversorgung garantieren. Darüber hinaus kann der Käufer dann Häuser bauen und teuer verkaufen.
Ein paar Familien sind in bereits gebaute Häuser umgezogen. Viele wollen aber gar nicht in einen anonymen Wohnblock ziehen. Sie haben Angst ihr soziales Umfeld zu verlieren. Dazu kommt, dass die geplanten Wohnungen längst nicht für alle reichen würden! Letztlich ist dieses Vorhaben vorerst gescheitert.
Dharavi Slum Tour
Keine Frage: Slum Tourismus — und damit eine Dharavi Slum Tour — ist umstritten!
Seit ein paar Jahren gibt es mehrere geführte Touren durch das Dharavi Viertel. Ein renommierter Anbieter scheint Reality Tours und die NGO Reality Gives zu sein. Alle Führer stammen aus dem Dharavi Slum. 80 Prozent der Gewinne von Reality Tours fließen zurück in den Slum. Angeboten werden Gesundheitsprogramme, Englisch- und Computerkurse, Bildungsprogramme sowie Sportmöglichkeiten.
Anfahrt zum Dharavi Slum
Zugfahrt mit Western Line in ca 30 Minuten von „Churchgate“ zur Station „Mahim“.
Toller Artikel, Peter. Sehr interessant und toll, dass letztlich der Slum auch von der Tour profitiert. Viele Grüße, Nina
Interessanter Artikel! Eine solche geführte Tour würde ich auch gerne mitmachen!
LG
Ulrike
Lieber Peter,
bisher war ich als Indienfan noch nicht in Mumbai. Wenn das Reisen irgend wann wieder möglich ist, möchte ich gerne noch einmal nach Indien.
Ich finde es immer sehr lehrreich, wenn man das Leben der Einheimischen vor Ort kennenlernen darf und nicht nur die Sehenswürdigkeiten. Daher würde ich auch an einer Slumtour teilnehmen, besonders, wenn die Einnahmen den Bewohnern auch helfen.
Beim Lesen deines Berichtes habe ich Bilder aus dem Film “Slumdog Millionär” vor Augen, der in Mumbai spielt.
Liebe Grüße
Renate
Hallo Renate,
ja, es ist eine lehrreiche und lohnenswerte Tour auf der man innerhalb kurzer Zeit ein breites Spektrum von Indien kennenlernt.
Ich mag mir allerdings gar nicht vorstellen, wie es dort jetzt in Zeiten von Corona zugeht.
BG, Peter