Andreas Wunn lebte 6 Jahre in Rio de Janeiro, Brasilien. Er war der Südamerikakorrespondent des ZDF. Seine Themen sind die Kriminalität, Korruption, Umweltprobleme, typische Gewohnheiten und der Fussball in Brasilien.
Pünktlich zur Fussball-WM in Brasilien brachte Andreas Wunn sein zweites Buch „Brasilien für Insider“ auf den Markt.
Im ersten Buch „In Brasilien geht’s ohne Textilien“ ging es eher um die Klischees und darum den Leser unterhaltsam und mit einem Augenzwinkern auf das Land einzustimmen.
“Brasilien für Insider” beschäftigt sich mehr mit den Problemen des Landes, zB der sozialen Ungerechtigkeit (rund 75 Prozent der Reichtümer liegen in den Händen von nur 10 Prozent der Bevölkerung), den Missständen wie die Korruption, dem miserablen Gesundheitssystem („wer eine schnelle Behandlung braucht, stellt sich oft schon nachts in die Schlange vor einem öffentlichen Gesundheitszentrum, um tagsüber dranzukommen.“) und den steigenden Mieten („Verträge werden oft nur über 30 Monate abgeschlossen und dann mit oft horrenden Steigerungen verlängert“).
Weitere Themen sind der Aufbruch in den Favelas, der Kampf gegen die Drogenbosse und die Umweltprobleme beim Megaprojekt Belo Monte, dem Bau des drittgrößten Staudamms der Erde.
Natürlich darf ein Kapitel über den Karneval nicht fehlen und last but not least dem Fussball, so besuchte er u.a. den ehemaligen Bayern-Star Giovane Elber auf dessen Fazenda.
Andreas Wunn lebte von 2010 — 2016 in Rio de Janeiro.
Er ist profunder Kenner des Landes und berichtete als Korrespondent des ZDF für den Sender aus ganz Südamerika.
Interview mit Andreas Wunn
Update: Das Interview stammt zwar aus dem Jahr 2014 (unmittelbar vor der Fussball WM in Brasilien), hat aber seine Gültigkeit nicht verloren.
Herr Wunn, wie würden Sie jemandem das Land und die Bewohner beschreiben?
Geradezu unfassbar ist erstmal die Größe: Brasilien ist 24 Mal so groß wie Deutschland. Ein Land mit 200 Millionen Einwohnern, die europäische, afrikanische, asiatische und die Wurzeln der Indianerbevölkerung haben. Ein Land mit atemberaubender Natur, mit kilometerlangen Stränden und dem Amazonasregenwald. Brasilien ist ein aufstrebendes Schwellenland, das ich faszinierend und schockierend zugleich finde. Funkelnder Reichtum und bittere Armut direkt nebeneinander.
Welches sind Ihre Lieblingsorte in Brasilien?
Mein Lieblingsstadt in Brasilien ist ganz klar Rio de Janeiro, hier wohne ich seit dreieinhalb Jahren und fühle mich sehr wohl. Rio ist wunderschön, hat aber als Stadt immense Probleme, vor allem mit der Infrastruktur und mit Gewalt und Kriminalität. Außerdem bin ich gerne im Bundesstaat Bahia im Nordosten, dort wo auch die deutsche Mannschaft ihr WM-Quartier aufschlagen wird. Traumhafte Strände mit Kokospalmen, warmes, klares Wasser und die sehr interessante afro-brasilianische Kultur machen Bahia zu einem ganz besonderen Teil Brasiliens.
Welches war Ihr beeindruckendstes Erlebnis?
In Salvador da Bahia habe ich in einer Favela mal eine Frau interviewt, die in einem sehr einfachen, kleinen Zimmer wohnte. Als wir eintraten, entschuldigte sie sich sofort, dass sie uns keinen Stuhl anbieten kann — sie besaß nämlich keinen. Das war ganz am Anfang meiner Zeit in Brasilien und hat mich sehr beeindruckt, die soziale Ungerechtigkeit im Land ist immer noch riesig
Mit welchen brasilianischen Gewohnheiten können Sie sich nicht anfreunden?
Als halbwegs pünktlicher Deutscher musste ich mich wirklich an das brasilianische Zeitgefühl gewöhnen. Die Uhren ticken hier anders, alles ist viel unverbindlicher. Ein halbe Stunde oder mehr zu spät zu einem Termin zu kommen, ist hier völlig normal. Wenn man sich da nicht anpasst, wird man unglücklich.
Worauf sollten deutsche Touristen achten, bzw. welche Regeln beachten?
Als Tourist muss man keine Angst haben, in Brasilien auf die Straße zu gehen. Aber man sollte immer ein bisschen vorsichtig sein. Teuren Schmuck und große Uhren eher zu Hause lassen, keine auffälligen Taschen oder Kameras tragen und seine Sachen nie irgendwo alleine lassen. Falls es dann doch zu einem Überfall kommt, bloß nicht den Helden spielen. Einfach Handy und Geld abgeben, dann passiert in der Regel weiter nichts.
Was können die Deutschen von den Brasilianern lernen und umgekehrt?
Die Deutschen können von den Brasilianern lernen zu improvisieren.
Die Brasilianer können von den Deutschen lernen zu organisieren.
Im Juni 2013 gab es vehemente Demonstrationen gegen Korruption und Preiserhöhungen während der Generalprobe für die WM, dem Confed-Cup. Viele Hunderttausende gingen auf die Straße. Kann sich das während der WM wiederholen?
Die Unzufriedenheit in der brasilianischen Bevölkerung ist nach wie vor hoch. Denn an den Problemen, weswegen im vergangenen Jahr die Massen auf die Straße gingen, hat sich ja nichts geändert: schlechte Infrastruktur, miserables Gesundheits- und Bildungssystem, Korruption. Und gleichzeitig wurden Milliarden für die WM-Stadien ausgegeben. Doch in den vergangenen Monaten hat die Protestbewegung an Kraft verloren. Zu den letzten Demos kamen gerade mal 1000 Menschen. Durch das zum Teil brutale Einschreiten der Polizei haben viele Demonstranten Angst, an den Protesten teilzunehmen. Es kann aber sein, dass all dies vor und während der Fußball-WM noch einmal hochkocht.
Wie hoch ist das Gewaltpotenzial der Polizei/Straßenkriminalität im Moment?
Beispiel Rio de Janeiro. Mit sogenannten Befriedungspolizeieinheiten wollte die Stadt bis zur Fußball-WM in 40 Favelas die herrschenden Drogengangs vertreiben. Das hat teilweise funktioniert, doch gerade in letzter Zeit gab es viele Rückschläge. Immer wieder sterben bei Polizeieinsätzen Unschuldige, auch von Folterungen auf Polizeiwachen wird berichtet. Dadurch hat die Polizei viel Vertrauen bei den Favela-Bewohnern verloren. Und die Wut entlädt sich dann oft auch in Gewalt gegen die Polizei. Es ist eine explosive Mischung.
Sind Sie oder Ihr Team schon einmal in eine brenzlige Situation geraten?
Ich wurde in einer Favela einmal von einem Drogendealer mit vorgehaltenem Maschinengewehr bedroht. Als ich ihm sagte, dass ich ein deutscher Journalist sei, ließ er mich weitergehen. Und im Amazonasregenwald sind wir einmal mit unserem Boot gekentert. Unser Equipment wurde nass, aber wir konnten alles ans Ufer retten.
Im Mai streiken die Busfahrer und die Polizei droht mit Streik während der WM. Preissteigerungen sind an der Tagesordnung.
Was wird während der WM anders sein?
Brasilien wird sich wochenlang im Ausnahmezustand befinden. WM-Begeisterung wird sich mit den Problemen an den Flughäfen und im öffentlichen Nahverkehr mischen. Die hohen Preise werden für Unmut sorgen, doch die Lebensfreude der Brasilianer und die traumhaften Strände werden viele Besucher beeindrucken. Und sollte Brasilien im eigenen Land wirklich Weltmeister werden, wird das die größte Party, die das Land je gesehen hat.